J.W. Steinberg u.a. (Hrsg.): The Making of Russian History

Cover
Titel
The Making of Russian History. Society, Culture, & the Politics of Modern Russia. Essays in Honor of Allan K. Wildman


Herausgeber
Steinberg, John W.; Wade, Rex A.
Reihe
Allan K. Wildman Group Historical Series 4
Erschienen
Bloomington 2009: Slavica Publishers
Anzahl Seiten
220 S.
Preis
$ 24.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Stadelmann, Institut für Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

„The Making of Russian History“ ist ein Memorialband für den 1996 verstorbenen amerikanischen Historiker Allan K. Wildman, der – woran eine ausführliche Laudatio von Rex Wade und Eve Levin erinnert – in New York und Ohio die Russische Geschichte vertrat und insbesondere durch seine Publikationen zu Sozialdemokraten und Armee in Russland sowie durch seine langjährige Herausgeberschaft der Russian Review Bekanntheit erlangte.1

Wildman war ein in der Wolle gefärbter Sozialhistoriker, sein Credo lautete, dass Arbeiter, Soldaten und Bauern die russische Geschichte „groß“ machten (S. 1). Diese sozialhistorische Prägung hat auch bei jenen Schülern und Gleichgesinnten Wildmans Spuren hinterlassen, die den vorliegenden Sammelband gestaltet haben. So geht es nur in zwei von acht thematischen Beiträgen nicht explizit um Arbeiter beziehungsweise Arbeit, Revolution, Bauern und Militär. Außer jener grundsätzlich sozialgeschichtlichen Ausrichtung am Mentor Wildman jedoch gibt es keinen verbindlichen roten Faden, der die Aufsätze zusammenhielte, wie die Herausgeber indirekt, aber offen eingestehen: „What gives the articles unity […] are the rigorous professional standards that stand as a testimony to Allan’s legacy as a teacher“ (S. 1). Eine Erklärung freilich, wie das Buch zu seinem Titel kam, bleiben sowohl die Herausgeber in ihrer kurzen Einführung als auch die Autoren in ihren Beiträgen schuldig. Sicher, „The Making of Russian History“ klingt griffig, erinnert an Wildmans Dissertation und passt auf fast alles, wirkt aber doch mehr wie eine Verlegenheitslösung. Um die gezielte Hinterfragung einer Konstruiertheit der russischen Geschichte, die der Titel suggerieren mag, geht es jedenfalls nicht.

Alle Beiträge zeugen, da haben die Herausgeber schon Recht, von solider Professionalität, wenngleich sie mehrheitlich weder methodische Überraschungen noch außerordentlich innovative Erkenntnis bieten. So stellt Matthew R. Schwonek („From Classroom Conspirator to Revolutionary Soldier. Kazimierz Sosnkowski and the Revolution of 1905-07“) zentrale Erfahrungen in der frühen Biographie des späteren polnischen Armeegenerals Kazimierz Sosnkowski vor und zeichnet seine Wandlung vom revolutionär gestimmten Studenten zum für die Befreiung Polens kämpfenden Offizier nach. Dabei sorgte, so wird argumentiert, das wahrgenommene Scheitern der Revolution von 1905 in bestimmten Kreisen des polnischen politischen Lebens für eine Abwendung von parteifundierter Ideologie hin zur Idee eines ideologieübergreifenden patriotischen Befreiungskampfes.

Alice K. Pate setzt sich in „May Day in Late Imperial Russia. Workers’ Voices. 1891-1914“ das Ziel, über die Analyse von mehr als 300 Flugblättern zu einer Neuinterpretation der Arbeiterbewegung im revolutionären Russland zu gelangen. Ausgangspunkt soll dabei das Narrativ des 1. Mai sein, welches die Autorin jenseits der klassischen Emigrantendiskurse und näher am russischen Arbeiter verfolgen möchte. Freilich wird, trotz bislang nicht ausgewerteten Materials und aktueller Fachterminologie, nicht deutlich, worin die angestrebte Neuinterpretation liegen soll. Wenn in den Maiflugblättern vom Ende des Kapitalismus und vom Sturz der Autokratie die Rede ist, von einer strahlenden Zukunft unter den Vorzeichen des Sozialismus, von Freiheit und Gleichheit, von internationaler Solidarität und Überwindung der russischen Rückständigkeit, dann kommt einem das doch recht bekannt vor. Auch Trisha Starks („Workers’ Bodies in the Workers’ State. Prophylaxis and the Construction of Soviet Citizenship“) widmet sich den Arbeitern, allerdings bereits nach der Revolution. Ihr Beitrag hat die sich in Vorschriften, Ermahnungen und Empfehlungen manifestierenden Bemühungen um eigenverantwortliche Gesundheitsprophylaxe der Proletarier zum Gegenstand. „Sauberkeit“ wurde im jungen Sowjetstaat zu einer stark politisch aufgeladenen Kategorie, die von Experten und Funktionären geradezu als Grundlage für die Verwirklichung der sozialen Utopie des Kommunismus angesehen wurde. Hygiene und Gesundheit galten als Grundlagen einer guten, starken Gesellschaft und damit eines stabilen Staates. Dem neuen starken (Sowjet-)Menschen sollte der Triumph über die Biologie gelingen. Die Studie ist materialreich und gut recherchiert, sie fußt auf beachtlicher Belesenheit. Allerdings, und das lässt sich an den Fußnoten eben auch ablesen, ist das Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln vielfach behandelt worden.

Aaron Retish („Eastward Ho! Peasant Migratory Networks of Viatka Province during Peace and Revolution. 1850-1921“) führt am regionalen Beispiel des Gouvernements Wjatka Migrationsmuster und Informationskanäle der bäuerlichen Bevölkerung, insbesondere in der Zeit von Revolution und Bürgerkrieg vor. Dabei demonstriert er, dass die Migrationen der Bauern innerhalb des Gouvernements, aber auch in andere Gebiete, Teil einer Überlebensstrategie war, wobei lange tradierte Netzwerke und die von ihnen vermittelten Informationen und Erwartungen kommunikative Voraussetzungen der bäuerlichen Wanderungsbewegungen waren. Greta Bucher legt in „Stalinist Families. Motherhood, Fatherhood, and Building the New Soviet Person“ eine stark utilitaristische Erklärung stalinistischer Familienpolitik vor. Die Abkehr von familienlosen Utopien und die Rückkehr zum Konzept der Familie in den 1930er-Jahren sei nicht zuletzt mangelnden finanziellen Mitteln geschuldet, die Erziehung der Kinder durch Vater und – insbesondere – Mutter schlicht die billigste Lösung gewesen. So wurde die traditionelle familiäre Rollenverteilung zementiert, wobei man die Funktion des Vaters „zuhause“ immer mehr reduzierte, die der Mutter dagegen stetig stärkte, was wiederum seine Rückwirkung auf das Frauenbild hatte, zu dem das „Mütterliche“ untrennbar dazu gehörte. Auch für diese Tendenzen macht Bucher handfeste Gründe aus: Die Beanspruchung der Männer in der Arbeitswelt und der Zweite Weltkrieg, der männerlose Familien zur unvermeidlichen Realität machte. Die pragmatischen Argumente leuchten ein, doch hätte man sich auch eine Verortung der Familienpolitik in allgemeinen Traditionalismen der Stalin-Zeit gewünscht.

Besonders instruktiv wirken die verbleibenden drei Beiträge. John W. Steinberg („D. A. Miliutin’s Impact on the Education of Russian Military Officers“) stellt in seinem Artikel klar die persönliche Bedeutung des Kriegsministers für die russische Armee heraus und verweist gleichzeitig auf die Problematik der Stagnation im militärischen Bildungswesen nach Miljutins Ausscheiden 1881. Zwar ist Miljutins Rolle für das russische Militärwesen nicht unbekannt, doch Steinberg gelingt es hier am speziellen Thema der militärischen Bildung souverän und anschaulich, die vom Minister gesetzten Meilensteine deutlich zu machen: Die quantitative und qualitative Ausweitung der Offiziersbildung sowie die soziale Öffnung der Lehranstalten, der die Vorstellung einer modernen, dem Zeitenwandel angepassten russischen Armee zugrunde lag. Auch William K. Wolfs „Komsomol Mobilizations to Metrostroi, 1933. A Case Study in Labor Recruitment during the Soviet Industrialization Era“ überzeugt durch klare, nachvollziehbare Argumentation. Der Aufsatz beschreibt beispielhaft die Probleme bei der Komsomolzenrekrutierung für den tätigen Aufbau des Sozialismus. Mit Archivmaterial belegt und begründet er die wenig begeisterten Reaktionen der jungen Parteigenossen und stellt diverse Strategien zur Mobilisierung und zur Verweigerung vor, erklärt aber auch die Motive der Willigen und Bleibenden. Wolf gelingt damit ein eindrücklicher, diversifizierter Blick auf habituelle Alltäglichkeiten jenseits der offiziellen Glorifizierung eines stalinistischen Enthusiasmus. Der Beitrag regt dazu an, sich auf breiterer Basis dem Komsomol zu widmen – wie andere sowjetische Verbände auch hält die Parteijugendorganisation hinter den bekannten Fassaden wohl viel lohnende Erkenntnis zur sowjetischen Gesellschaft bereit.

William Jay Rischs „Lviv and the Collapse of the Soviet Union. Establishment Writers and Literary Politics on the Soviet Western Politics“ ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Er behandelt eine im Westen weitgehend unbekannte Phase des Lemberger bzw. „westukrainischen“ Literaturlebens. Dabei stellt er, souverän eingeordnet in den politischen Kontext der Zeit, den Schriftsteller, langjährigen Vorsitzenden des Lemberger Schriftstellverbandes und kurzzeitigen Herausgeber der Literaturzeitschrift „Schowten“, Rostyslaw Bratun (1927-1995), vor und offenbart am konkreten Beispiel anregende Einblicke in das Funktionieren literaturpolitischer Auseinandersetzungen, in denen offizielle Diskurse und persönliche Animositäten, öffentliche und private Sphären, wechselnde Haltungen und Stimmungen für komplexe Situationen sorgten. Überzeugend und gut begründet führt Risch uns fort von der auch für die Sowjetukraine gerne gepflegten Schwarz-Weiß-Malerei über sowjetrussische Unterdrückung und ukrainischen Freiheitsdrang. Vielmehr haben wir es stets mit einer Aushandlung divergierender (manchmal auch konvergierender) Interessen in der kulturellen Lebenspraxis zu tun. Die sowjetischen Konzeptionen und die ukrainischen Vorstellungen mussten nicht zwangsweise unversöhnliche Gegensätze bilden, obwohl latentes Konfliktpotential vorlag, etwa was die nationalen und regionalen Besonderheiten gerade in den galizischen Gebieten anging. Bratuns knapp zweijährige Herausgeberschaft des „Schowten“ 1963-65 beschreibt Risch als „success story for late Soviet politics of empire“ (S. 205), da es gelang, ukrainisches Identitätsstreben und sowjetische Anforderung zu vereinen. Doch auch über dieses Beispiel hinaus scheint Rischs Ansatz vielversprechend, sich über Werte und Habitus den Bewohnern Lembergs als „loyal Soviet citizens, patriotic Ukrainians, and also proud Lvivians and Western Ukrainians“ (S. 187) zu nähern. Dabei ist es bezeichnend für die sowjettypische Kontraproduktivität, dass die grundsätzlich integrationsbereiten Ukrainer von der Zentrale nicht zuletzt durch das ständige Wedeln mit der Rute des „bürgerlichen Nationalismus“ für ihre – anscheinend nicht integrierbaren – Besonderheiten sensibilisiert wurden.

Insgesamt hinterlässt der Sammelband die gattungstypischen ambivalenten Eindrücke. Angesichts einer fehlenden konzeptionellen Klammer konnten nur die Einzelbeiträge gewürdigt werden. Einige von ihnen bestätigen Bekanntes, andere warten mit bislang unbekanntem Material auf, wenige durch Herangehensweisen von neuartiger Qualität. Dass ausgerechnet derjenige Aufsatz, der sich am Weitesten von Wildmans eigenen Forschungen entfernt, die nachhaltigste Wirkung hinterlässt, muss man keineswegs als Ironie begreifen. Es steht schlicht für die ständige thematisch-methodische Weiterentwicklung unseres Faches, die wir ja bekanntermaßen „auf den Schultern von Riesen“ stehend betreiben. Ein kreativer Geist wie Wildman hätte sicher seine Freude daran.

Anmerkung:
1 Alan K. Wildman, The Making of a Workers’ Revolution. Russian Social Democracy, 1891-1903, Chicago 1967; ders., The End of the Russian Imperial Army. The Old Army and the Soldiers’ Revolt (March-April 1917), Princeton 1980; ders., The End of the Russian Imperial Army. The Road to Soviet Power and Peace, Princeton 1987.